Vor 25 Jahren passierte das schlimme ICE-Zugunglück von Eschede

SteveJ

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Es war der Vormittag des 3. Juni 1998.
Mit knapp 200 Stundenkilometern passierte der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" die niedersächsische Kleinstadt Eschede (Landkreis Celle) auf dem Weg nach Hamburg.
Über 200 Passagiere waren an Bord des Zuges als es passierte:
Kurz vor einer Brücke entgleiste der ICE. Einer der Wagen krachte gegen einen Brückenpfeiler und brachte das tonnenschwere Bauwerk zum Einsturz. 🙈
Vier Wagen hatten es vorher noch über die Brücke geschafft, ein fünfter Wagen wurde auseinandergerissen und begrub den sechsten unter sich.
Die folgenden Wagen wurden vom hinteren Triebkopf des Zuges wie ein Zollstock vor dem Trümmerfeld zusammengeschoben. 😲

Schon nach wenigen Minuten war der erste Rettungswagen vor Ort.
Er setzte die schockierende Meldung ab: "Kompletter ICE verunglückt". :eek:

Brandmeister Gerd Bakeberg vom Landkreise Celle war auch vor Ort:
"Was man zu sehen bekam, konnte man erst gar nicht fassen. Man konnte keinen klaren Gedanken fassen", sagte er.

Die traurige Bilanz: 101 Todesopfer und 108 Verletzte. 😢
Es handelt sich um den bislang schwersten Eisenbahnunfall in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit.

Und es hätte noch schlimmer kommen können: Planmäßig wäre der Zug genau bei Eschede dem nach Süden fahrenden ICE 787 begegnet.
Der wäre womöglich in das Unfallchaos hineingerast, wenn er nicht eine Minute schneller gewesen wäre als der Fahrplan.
Er hatte die Stelle daher also schon passiert. Der verunglückte ICE 884 war eine Minute zu spät dran.

Zwei Wochen nach dem Unglück hatte das Eisenbahn-Bundesamt bekanntgegeben, dass ein Defekt an einem Rad des ersten Wagens das Unglück ausgelöst hatte.
Die ICEs dieser ersten Generation besaßen Räder mit einer Hartgummidämpfung.
Darauf lief ein metallener Radreifen – und ein solcher Reifen war vor Eschede gebrochen und hatte sich vor der Betonbrücke in Eschede an einer Weiche verhakt.

Im Dezember 2001 erhob die Staatsanwaltschaft Lüneburg Anklage gegen drei Ingenieure der Deutschen Bahn AG und des Radreifen-Herstellers.
Sie zitierte die Einschätzung des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit, wonach der betreffende Radreifen so verschlissen gewesen sei, dass er nicht mehr sicher habe laufen können.
Zwar habe er die Sicherheitskriterien der Bundesbahn noch eingehalten; aber diese Kriterien seien 1992 ohne ausreichende Berechnungen und Labor- oder Fahrversuche formuliert worden.
Die Gutachter der Verteidigung hielten dagegen: Niemand habe den Bruch des Radreifens vorhersehen können; die Radkonstruktion selbst sei für Hochgeschwindigkeitszüge geeignet.
ICEs hätten schließlich mit diesen Rädern in sechs Jahren zehn Milliarden Streckenkilometer absolviert.
Nach 54 Verhandlungstagen schlug das Landgericht Lüneburg vor, das Verfahren gegen eine Geldbuße einzustellen.
Es nahm damit in Kauf, dass die Verantwortlichkeit letztlich nie ganz geklärt werden würde.
Aber die Befragung der Gutachter habe eine schwere Schuld der Angeklagten nicht ergeben.
Das Verfahren wurde schließlich eingestellt...

Für die Betroffenen war das ein schwerer Schlag. 😒
Opfer und Hinterbliebene hatten die Selbsthilfe Eschede gegründet. Es ging nicht zuletzt darum, die Interessen gegenüber der Deutschen Bahn geltend zu machen.
Die Deutsche Bahn hatte sich zum Zeitpunkt der Beendigung des Verfahrens nicht zu einer Bitte um Entschuldigung bereitgefunden. Es dauerte tatsächlich 15 Jahre, bis 2013, bis sie um Verzeihung bat.

Heute übt die Deutsche Bahn Selbstkritik:
"Ja, in der Tat, es hat 15 Jahre gedauert – zu lange, wie man heute sagen muss –, es gab natürlich nach dem Unfall viele juristische Hinweise, dass man sich nicht entschuldigen kann, solange das Ganze nicht juristisch geklärt ist, aber ich sage auch ganz deutlich:
Eine offizielle Entschuldigung, wie sie der damalige Bahnchef Rüdiger Grube 2013 ausgesprochen hat, hätte trotz aller juristischen Bedenken früher kommen müssen“
, sagte Konzernsprecher Achim Stauß.

Für die medizinische Versorgung und Hilfen hat die Deutsche Bahn den Opfern insgesamt etwa 40 Millionen Euro gezahlt.
Die Klage eines Berliner Anwalts, der stellvertretend für 50 Hinterbliebene vor dem Landgericht Berlin je 250.000 Mark forderte, statt der angebotenen 30.000 Mark, scheiterte.
Heinrich Löwen, Sprecher der Hinterbliebenen, hat zum 25. Jahrestag ein Buch mit dem Titel "ICE 884 – nach der ICE-Katastrophe von Eschede, Erinnerungen, Erfahrungen und Erkenntnisse" geschrieben.
Er betont, das gemeinsame Erinnern und Trauern sei wichtig. In seinem Buch beschreibt er den langen Kampf um Entschädigung – 30.000 Mark pro Todesopfer – und die Enttäuschung über die juristische Aufarbeitung.
"Es ist keine Geschichte, die man so abhakt, das rührt einen schon an“, sagte der 78-jährige Bayer der dpa, der damals seine Ehefrau und Tochter verloren hat.
"Es ist nicht unbedingt leichter als früher, viele von uns sind auch älter geworden.“
Der Jahrestag rufe einiges hervor.

Rasch nach dem Unglück traf die Bahn technische Entscheidungen. Die Räder mit den gummigefederten Radreifen am ICE 1 wurden aus dem Verkehr gezogen.
Die Radsätze werden regelmäßig auf Defekte untersucht. Alle ICEs bekamen markierte Fenster für den Notausstieg.
Bei Neubaustrecken wurden vor Brücken und Tunneleinfahrten nun keine Weichen mehr eingebaut.

Dazu kommt: Heute sind die technischen Zulassungsverfahren strenger als 1991, als der ICE 1 auf die Strecke ging.
Damals liefen die Prozesse bundesbahnintern ab. Heute hat eine übergeordnete europäische Stelle die Federführung: die European Railway Agency (ERA) im französischen Valenciennes.
ERA-Exekutivdirektor Josef Doppelbauer sagt:
"Der wesentliche Unterschied in dem heutigen Verfahren ist, dass es mehr unabhängige Beteiligte gibt; also, es gibt die sogenannten Dritten Parteien – die sind unabhängig vom Herstellland, unabhängig vom Betreiber.
Und dann gibt es darüber hinaus noch die Behörde als Genehmigungsstelle. Der Prozess hat sich wesentlich verbreitert und verbessert."

Eine solche Dritte Partei kann zum Beispiel der TÜV sein.
Erst kürzlich, so Josef Doppelbauer, habe die ERA noch die Zulassung eines neuen Güterwagentyps verweigert.

Auch am Fahrweg lässt sich das Sicherheitsniveau heben. Alle Strecken in Deutschland sind von jeher mit der "Induktiven Zugsicherung" ausgerüstet, kurz Indusi.
Die gibt, vereinfacht gesagt, sofort Alarm, wenn ein Zug ein rotes Signal überfährt, und bremst den Zug dann zwangsweise ab.
Grundsätzlich sei es so, dass die Indusi schon ein sehr ordentliches Sicherheitsniveau gewährleiste, so Doppelbauer.
"Die Hochgeschwindigkeitslinien sind alle mit der Linienzugbeeinflussung ausgerüstet, diese Linienzugbeeinflussung ist jetzt vom Thema Sicherheit her gesehen auf dem gleichen Niveau wie das ETCS.“
Hinter ETCS verbirgt sich das "European Train Control System".
Beim ETCS-System erfolgt die Überwachung der Geschwindigkeit kontinuierlich während die sogenannte Indusi punktförmig überwacht.
Damit hat man noch besser im Griff, was auf den Gleisen vor sich geht.
Auch im Inneren der Züge hat sich seit dem Unglück von Eschede einiges verändert, sagt Markus Hecht vom Institut für Land und Seeverkehr an der Technischen Universität Berlin.
"Eine ganz deutliche Änderung ist die, dass Crash-Zonen in den Fahrzeugen eingeführt wurden. Diese gelten seit 2009 europaweit“, sagt er.
Bei der Kollision von zwei Meridian-Zügen in Bad Aibling 2016 mit zwölf Toten wäre es ohne diese EU-konforme Ausstattung zu weitaus mehr Opfern gekommen:
"Wir haben das im Expertenkreis nachgerechnet: Wenn das noch die altherkömmliche Ausführung gewesen wäre, hätte man 80 Tote erwarten können.“

Laut Hecht seien noch weitergehende Sicherungsvorkehrungen denkbar. Über eine Gurtpflicht in Zügen etwa habe man diskutiert.
Aber: "Da steht der Vandalismus entgegen!“ 🙁
Die Sitze müssten daher vandalismus-resistenter sein, was wiederum für eine Unfall-Situation weniger gut sei.
Die Deutsche Bahn versucht die Prozesse daher auch an anderer Stelle zu verbessern:
"Wir haben mittlerweile ein sehr ausgeklügeltes Notfallmanagementkonzept mit Notfallmanagern, die in einer fest definierten Zeit an einer Unfallstelle sein müssen“, sagt Deutsche-Bahn-Sprecher Achim Stauß.
Ebenso gibt es seit der Katastrophe von Eschede ein besseres Betreuungskonzept für Angehörige und Helfer.

Der 3. Juni ist kein gutes Datum für die Bahn:
Vor genau einem Jahr, am 3. Juni 2022, hat sich bei Garmisch-Partenkirchen eines der schwersten Zugunglücke der vergangenen Jahre ereignet.
Bei Burgrain entgleiste ein Regionalbahn-Zug (RB) der DB Regio AG. Bei dem Unfall kamen fünf Menschen ums Leben, 68 wurden verletzt. 😔

Eine private Analyse stellte im Juli 2022 die Vermutung auf, dass eine Unterspülung des Bahndamms diesen instabil gemacht haben könnte, was zur Entgleisung des Zuges geführt haben könnte.
Der dort verlaufende Bach sei während des Ausbaus der Bundesstraßen B2 und B23 in den 1990er-Jahren näher an den Bahndamm verlegt worden.
Ein Gutachten, das der Staatsanwaltschaft München II seit Anfang 2023 vorliegt, stellte eine Durchwässerung des Bahndamms fest, die ursächlich für die Entgleisung sein könnte.

Nun mehren sich Hinweise auf eine mögliche Unglücksursache.
Eine Drucksache des Verkehrsausschusses des Bundestages, die dem Bayerische Rundfunk und der dpa vorliegt, spricht von einer Schienenverschiebung und "zum Teil vorgeschädigten Betonschwellen" als primärer Unfallursache.

Quellen: Deutschlandfunk, ZDF, dpa, BR, Wikipedia
 

didi33

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Da zwei der Opfer aus meiner Heimatstadt kommen weis ich das das Unglück schon schrecklich genug war, aber wie die Bahn und ein Stück weit auch die Politik mit den Hinterbliebenen umgesprungen ist war mindestens genau so schlimm.
 

Brian

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Kann mich noch sehr gut an das Unglück erinnern,hatte die Berichte auf ntv verfolgt.Obwohl ich ja keinen von den Opfern kannte war ich sehr erschüttert und meine Gedanken waren bei den Angehörigen.
 

comatron

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Und jetzt das Unglück in Indien - das Leben ist manchmal ziemlich greuslich.
 
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