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Ich sehe was, was Du nicht siehst
Ein Einwurf zur Zensur in Deutschland
Ein Einwurf zur Zensur in Deutschland
Von Carsten Tritt
Ein prägender Moment aus Pulp Fiction ist jener, in welchem der von Bruce Willis gespielte Boxer das Pfandhaus nach einer geeigneten Waffe durchsucht, um sich schließlich für das Samuraischwert zu entscheiden. Die Szene ist – wie vieles bei Tarantino – Zitat, aber eines, das dem deutschen Zuschauer entgehen wird. Denn Wes Cravens Regiedebüt The Last House on the Left, auf den sich die Szene bezieht, und in dem ein gepeinigter Familienvater nach Schraubstock und Gewehr schließlich zur Kettensäge greift, ist in Deutschland verboten.
Es verwundert dabei, daß in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist, inwieweit in Deutschland Kunst zensiert wird, und wie selbstverständlich dies toleriert wird. Während Politik und Presse gerne Zensur in der Geschichte oder im Ausland anprangern und z.B. es anläßlich einer Mozartoper ein unerträglichen Angriff auf die Demokratie wird, wenn dort nicht abgeschlagene Köpfe diverser Religionsführer präsentiert werden dürfen, sind hier zahlreiche Filme komplett verboten. Zuletzt am 8. Mai beschloß der Bundestag eine erneute Zensurverschärfung. Einen Tag später erklärte Bundespräsident Köhler: »Wer Bücher, wer Filme, wer Theateraufführungen, wer Karikaturen verbieten will, der ist auf dem falschen Weg. Jeder kann sich in Wort und Schrift gegen das wehren, was ihm nicht paßt oder was ihn möglicherweise verletzt. Verbot und Unterdrückung aber zerstören Freiheit und Humanität.« Das bezog sich freilich nicht auf den Bundestagsbeschluß, sondern auf den 75. Jahrestag der Bücherverbrennungen.
Die deutsche Zensur betrifft am stärksten natürlich das jeweils neueste kulturelle Medium, das also von den Staatsgewalten noch am wenigsten verstanden wird – in den 1950er Jahren waren das Comics, in den 1980ern Videos und heute zu einem großen Teil Computerspiele. So ist z.B. mit »PEGI« ein europäisches Bewertungssystem zur Alterseinstufung für Computerspiele eingerichtet worden, welches fast alle anderen EU-Staaten nutzen – nur nicht Deutschland, wo das System als zu lasch gilt. Natürlich ist die Kunstzensur in Deutschland nicht annähernd so schlimm wie in China, der DDR oder gar im Dritten Reich. Dennoch existiert hier die wohl strengste Beschränkung der Kunstfreiheit unter westlichen Demokratien. Wenn auch der Platz nicht ausreicht, um die komplexen Regelungen des hiesigen Jugend- und Erwachsenenschutzes umfassend zu erläutern, werde ich im folgenden zumindest die wesentlichen Einschränkungen, denen der Film unterliegt, kurz anreißen.
Allgemein bekannt ist, daß Filme meist von der FSK, der Freiwilligen Selbstkontrolle geprüft werden, die eine Freigabe zwischen »ohne Altersbeschränkung« (vulgo: »FSK-0«) und »keine Jugendfreigabe« (»k.J.«, bzw. im folgenden vereinfacht »FSK-18« genannt) erteilt. Die FSK leistet hierbei überraschend kompetente Arbeit, und mit Zensur hat das eigentlich nichts zu tun. Wenn z.B. Harry Potter und die Kammer des Schreckens oder Disneys Lilo & Stitch für eine niedrigere Altersfreigabe gekürzt wurden, ist dies allein eine kommerzielle Entscheidung der Verleiher und sicher nicht das Problem der FSK.
Soweit, so gut – doch nicht jeder Film kommt in den Genuß einer Freigabe durch die FSK. Diese darf nämlich selbst die höchste Altersfreigabe FSK-18 nur an Kinofilme, vergeben, die nicht »schwer jugendgefährdend« sind, bzw. an DVDs, die nicht »einfach jugendgefährdend« sind. Obwohl also bei einer Freigabe FSK-18 sowieso Minderjährige keinen Zugang zum Film hätten, darf der Film dieses Siegel nicht erhalten. Begründet wird dies damit, der Jugendliche könne sich heimlich in die Vorstellung einschleichen oder sich die DVD illegal besorgen – deswegen auch die Differenzierung zwischen einfacher und schwerer Gefährdung, weil es ja leichter ist, eine DVD zu klauen als am Ticketkontrolleur vorbeizukommen. Der »einfach jugendgefährdende« Film Planet Terror lief mit FSK-18 ungekürzt im Kino, während die FSK-18-Fassung im Kaufhaus um rund drei Minuten erleichtert ist.
Nun bedeutet die Verweigerung der FSK-Freigabe zwar nicht das Verbot des Films. So dürfte ein Kinobesitzer theoretisch auch den ungekürzten, schwer jugendgefährdenden The Punisher (die FSK-18-Fassung des Films war stark geschnitten) in sein Programm nehmen. Allerdings unterliegt die ungekürzte Fassung wegen der »schweren Jugendgefährdung« automatisch nach §15 JuSchG einem umfassenden Werbeverbot. Sprich: Der Kinobesitzer dürfte den Film zeigen, aber er dürfte das nicht verraten, weder in Zeitungsanzeigen, noch auf seiner Homepage, nicht einmal durch Aushang des Plakats im Kinoschaufenster, womit also eine Auswertung des Films faktisch unmöglich ist. Bei der DVD gibt es hingegen auch für nicht freigegebene Filme wenigstens einen gewissen Markt, zumal es – dem identischen Werbeverbot für Pornos sei dank – ausreichend Erwachsenenvideotheken gibt.
Eine ausdrückliche Feststellung der Jugendgefährdung erfolgt durch die staatliche Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, deren Aufgabe es ist, die Jugend Schadendes zu indizieren – nicht nur Filme, sondern auch Software, Bücher, CDs, Brettspiele, Kaugummibilder und die Ansteckplaketten »Fuck the Teacher« und »I Like Marihuana« – letztere wurden aber 2006 wegen Zeitablaufs vom Index gestrichen.
Bei Indizierungen durch die Bundesprüfstelle herrscht somit auch ein umfangreiches Werbe- und Vertriebsverbot, und im Gegensatz zur FSK ist die Bundesprüfstelle leider »vollkommen inkompetent« – meinte jedenfalls Michael Naumann, als er noch Rowohlt-Verleger war, und ein Blick in die Prüfstellenbeschlüsse legt nahe, daß der Ex-Kulturstaatsminister mit seiner Ansicht so falsch nicht lag. Fast legendär ist diesbezüglich die Indizierungsbegründung zu Man-Eater, die übrigens von Elke Monssen-Engberding, der heutigen Vorsitzenden der Bundesprüfstelle, unterzeichnet ist: »Dabei ist nicht entscheidend das persönliche Erlebnis des Beurteilers, dem es nicht möglich war, die Cassette in einem Durchgang zu sichten und der anschl. unter anderem von lang anhaltendem Brechreiz, Magenkrämpfen und weiteren starken Mißempfindungen gequält wurde. Insoweit bleibt noch zu prüfen, ob gegen den Produzenten und Vertreiber eine Strafanzeige wegen Körperverletzung erstattet werden soll. Das hauptsächliche Gefährdungsmoment ist darin zu sehen, daß der Film verrohend wirkt und zu Gewalttätigkeiten anreizen kann. […] Die grauenhafte Gesamtwirkung dieses Films lässt sich jedoch nicht mit Worten beschreiben, sondern ist nur indirekt anzudeuten durch die bereits vorher mitgeteilten körperlichen Auswirkungen auf den Betrachter.« Zugegeben, Joe D’Amato war einer der talentfreiesten Regisseure des italienischen Kinos – aber die soeben zitierte Prosa stammt nicht von einem mißgelaunten Kritiker, sondern findet sich in einem Verwaltungsakt einer deutschen Behörde, welcher zudem ein erheblicher Grundrechtseingriff darstellt.
Bei der Robocop-Indizierung, dem Film vom »Holländer Paul Verhoeven, der nach USA gezogen ist, als seine Filme in Europa nicht mehr gefördert wurden«, findet die Bundesprüfstelle hingegen Geschehen, das so im Film gar nicht vorkommt wie in der Entscheidung behauptet wird, bei der versuchten Verhaftung des Antagonisten Jones werde Robocop von »Strahlen« attackiert – die Prüfer haben es also noch nicht einmal geschafft, dem Film überhaupt inhaltlich zu folgen. Weiter führen sie aus, die »Krönung dieser Aneinanderreihung von Gewalt und Menschenverachtung ist dann auch noch die Werbung für ein Atomspiel. […] Unseres Erachtens ist es äußerst zynisch und sozialethisch desorientierend für Kinder und Jugendliche, wenn in einem solchen Film eine so gefährliche Waffe wie die Atombombe, die die ganze Menschheit vernichten kann, als spaßig dargestellt wird.«
In letzter Zeit wurde der Bundesprüfstelle auch gerichtlich gelegentlich die mangelhafte Qualität ihrer Entscheidungen bescheinigt, wenn mal ein Rechteinhaber eine entsprechende Klage wagte. So wurde durch Urteil vom 16.11.2007 eine 2006er Indizierungsentscheidung von Just Jaekins Die Geschichte der O. aufgehoben, da das Verwaltungsgericht Köln nicht einmal die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit durch die Behörde erfüllt sah – und, wie man zwischen den Zeilen des Urteils erahnen kann, weil das Gericht wohl auch Probleme hatte, nachzuvollziehen, warum ein langatmig erzählter Softsexfilm aus den 1970ern überhaupt noch für Jugendliche interessant, geschweige denn gefährlich sein soll. Derzeit noch indiziert sind allerdings Regiearbeiten u.a. von Clint Eastwood, Roland Emmerich, Alejandro Jodorowsky, Pier Paolo Pasolini, Brian De Palma, James Cameron und David Cronenberg sowie über 2.000 weitere Filme.
Aber auch die Indizierung ist noch nicht das letzte Mittel des Staates – die schärfste Waffe ist das komplette Verbot des Films sowie damit verbunden die strafrechtliche Verfolgung des Herstellers, Distributeurs oder Verkäufers. Hierfür gibt es mehrere, z.T. sogar sinnvolle Grundlagen, z.B. den Straftatbestand der Volksverhetzung oder das Verbot harter Pornographie (so wurden 2006 und 2007 die Filme Maladolescenza nach einem Drehbuch von Peter Berling und Marian Doras Cannibal als kinder- bzw. gewaltpornographisch von den Amtsgerichten Karlsruhe bzw. Neuburg/Donau beschlagnahmt – ob zurecht, kann hier mangels Kenntnis der Werke nicht beurteilt werden).
Hauptproblematik ist allerdings der §131 des Strafgesetzbuches, der die Herstellung, Zugänglichmachung, Verbreitung, Ankündigung usw. gewaltverherrlichender oder -verharmlosender Medien unter Strafe stellt. Anhand dieses Paragraphen kann jeder Amtsrichter auf Antrag des Staatsanwaltes de facto einen Film verbieten, auch wenn sich seine kulturelle Ausbildung auf ein paar Folgen »Schwarzwaldklinik« beschränkt (wobei, um es kurz einzuwerfen, die Bundesprüfstelle auch mal eine Folge der »Schwarzwaldklinik« indiziert hat, was aber vom Bundesverwaltungsgericht wegen eines Formfehlers aufgehoben wurde). Zwar können gegen Beschlagnahmebeschlüsse und Verurteilungen Rechtsmittel eingelegt werden, aber da es meist unwirtschaftlich ist, gegen solche Verbote über mehrere Instanzen vorzugehen, bleibt manches Verbot mit z.T. abenteuerlicher Begründung bestehen. Eine Beschlagnahme wurde in den 1980ern meist recht vereinfachend begründet: »Dieser triviale Film ist sicher kein Werk der Kunst, so daß bereits aus diesem Grunde auf die Bedeutung des Kunstvorbehaltes des Art. 5 Abs. 3 GG für §131 StGB nicht eingegangen werden braucht«, meinte z.B. das Landgericht München über das Texas Chainsaw Massacre. Zwar mögen die meisten Filmwissenschaftler anderer Ansicht sein, doch zieht es sich schon als Tendenz durch zahlreiche Entscheidungen, daß der Richter, der von Berufs wegen ja sowieso immer recht hat, diesbezüglich auf detailliertere Begründungen gerne verzichtet.
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß sogar triviale Filme Kunst sein dürfen, so daß neuere Beschlagnahmeentscheidungen tendenziell eher damit begründet werden, daß, wie es das Amtgericht München anläßlich der Einziehung von Day of the Dead ausführt, »aus der Sicht eines verständigen, unvoreingenommenen Betrachters […] seine Vorstellungen von Menschlichkeit zutiefst verletzt werden« und somit das Verbot durch den im Grundgesetz garantierten Schutz der Menschenwürde gerechtfertigt ist.
Als der bisher nicht unbedingt als Mißachter der Menschenwürde berüchtigte Sender Arte kürzlich beschloß, Day of the Dead auszustrahlen, war er somit gezwungen, seinen deutschen und seinen französischen Kanal zu trennen: Für Frankreich wurde der Film ungekürzt gezeigt, für Deutschland eine stark zensierte Fassung ausgestrahlt – in Anlehnung an die Zeiten, als sich einst der Bayerische Rundfunk bei mißliebigem Kabarett aus dem ARD-Gemeinschaftsprogramm ausklinkte.
Weil eine Beschlagnahme des Films erst erfolgen kann, nachdem er veröffentlicht wurde, versuchen somit Anbieter, durch kostenträchtige juristische Gutachten, etwa bei der FSK-nahen SPIO-Juristenkommission, überprüfen zu lassen, ob ein Film strafrechtlich relevant sein könnte, um ihn gegebenenfalls bereits im Vorfeld für den deutschen Markt zu kürzen – was, wenn man noch die Indizierungsproblematik beachten will, zu einem entsprechenden Fassungswirrwarr führt: Saw IV etwa soll in nicht weniger als vier Schnittfassungen erscheinen: FSK-16 (wegen Beschränkungen für FSK-18-Titel Versandhandel), FSK-18 für die Kaufhäuser, juristisch geprüft für Videotheken und DVD-Börsen, und ungekürzt »nur für den Vertrieb in Österreich«. Wobei selbst eine juristische Prüfung allerdings für die Gerichte nicht bindend ist. Folglich wurde z.B. am 10.6.2008 selbst die von der SPIO-Juristenkommission für unbedenklich befundene, eigens für den deutschen Markt gekürzte Videothekenfassung von Hostel II beschlagnahmt, mit der Folge, daß der Film nur noch in der stark entstellten FSK-18-Kaufhaus-Fassung vertrieben werden kann.
Einmal beschlagnahmt ist es kaum möglich, daß ein Film später einmal rehabilitiert wird – und so finden sich unter den weit über hundert verbotenen Filmen auch zahlreiche Werke, deren künstlerischer Wert wenigstens im Ausland inzwischen unbestritten ist – darunter Arbeiten von Takashi Miike, Mario Bava, Dario Argento, George Romero, Sam Raimi und Peter Jackson.
Dabei mögen Der Golem, Das Cabinett des Dr. Caligari oder Nosferatu auf das zeitgenössische Publikum ebenso verstörend gewirkt haben wie Hostel II heute. Doch auch Hostel II, trotz Schwächen ein Film mit durchaus intelligentem Drehbuch, prangert z.B. ganz offensichtlich die Pervertierungen von Ideologien in der Gegenwart an und verweigert sich sogar ausdrücklich einem Happy-End, indem er nicht nur den Bösewicht, sondern auch gleich dessen amoralisches Weltbild obsiegen läßt. Die Chancen sind nicht schlecht, daß dem Film das Verbot erspart geblieben wäre, hätte er auf das verstörende Ende verzichtet und dem Zuschauer ein Alles-wird-gut-Schluß gegönnt. Und genau das ist die Gefahr, die aus dem deutschen Vorgehen gegen insbesondere den modernen Horrorfilm folgt: Dem hiesigen Zuschauer werden so nicht nur mancher Schund, sondern auch die Nosferatus und Caligaris der Gegenwart vorenthalten, manchmal auch nur, weil der Zensor in seiner eigenen Verstörung überfordert ist.
In der journalistischen Berichterstattung ist es wichtigste demokratische Errungenschaft, selbst erschreckende Nachrichten nicht zu unterschlagen; auch wenn Nachahmungstäter motiviert werden könnten – etwa bei Steinewerfern auf Autobahnbrücken oder bei amoklaufenden Schülern – käme zum Glück niemand mehr auf die Idee, eine entsprechende Berichterstattung verbieten zu wollen, denn diese Freiheit ist Bestandteil des demokratischen Systems. Wenn es jedoch um die Kunst geht, hat man in Deutschland Angst vor der Freiheit – zu unrecht, wie die Erfahrungen bei unseren europäischen Nachbarn zeigen, die auf Medienerziehung für die Jugend statt auf Verbote für Erwachsene setzen.
Es ist jedenfalls kaum anzunehmen, daß in Österreich, Frankreich oder den Niederlanden,
wo bei uns verbotene oder indizierte Filme in jedem Kaufhaus erhältlich sind,
die Menschenwürde weniger geachtet würde, oder die Jugend gefährdeter und verrohter wäre als hier.
Gruss vom Gollum