50 Jahre "Stockholm-Syndrom": Wie es zu diesem Phänomen kam

SteveJ

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Was ist das "Stockholm-Syndrom"?

Wenn Opfer paradoxerweise Täter schützen oder sogar zu ihnen halten, ihnen größeres Vertrauen schenken als z.B. der Polizei, spricht man vom "Stockholm-Syndrom".

Aber: Der Begriff ist umstritten!
Forscher innerhalb der Psychologie und Kriminologie sind sich über die Abgrenzung des Syndroms, seine Ursachen und seine Nachwirkungen so uneinig, dass es in den offiziellen diagnostischen Leitfaden der psychischen Störungen bis heute nicht aufgenommen wurde.

So glauben einige, dass auch Frauen, die sich weigern, ihren schlagenden Ehemann anzuzeigen, am Stockholm-Syndrom leiden.
Die anderen glauben eher, dass das Syndrom äußerst selten auftritt, vielleicht sogar nur ein Mythos ist.

Das FBI hat das Stockholm-Syndrom mehrere Male analysiert und Kriterien zu dessen Vorliegen aufgestellt:
  • Die Situation/Geiselnahme muss sich über mehrere Tage hinziehen.
  • Geiseln und Geiselnehmer müssen direkten Kontakt haben, also gemeinsam in einem Raum sein.
  • Die Geiselnehmer müssen freundlich sein, sie dürfen nicht bedrohlich wirken und sie dürfen die Geiseln nicht verletzt haben.
  • Geiseln und Geiselnehmer dürfen sich vor der Tat nicht gekannt haben.
1999 hat eine der FBI-Studien ergeben, dass nur fünf Prozent der Opfer bei Geiselnahmen Anzeichen des Stockholm-Syndroms zeigten.
Dazu hatte man 1200 ehemalige Geiseln befragt und analysiert.

Was genau passierte vor 50 Jahren in Stockholm?

Ein Mann betritt am 23. August 1973 um 10.15 Uhr morgens die "Kreditbanken" am Platz Norrmalmstorget in Stockholm.
Er trägt eine Sonnenbrille und eine Perücke. Noch vor dem Schalter zieht er eine Maschinenpistole aus seiner Aktentasche, schießt damit in die Decke und schreit:
"Die Party hat begonnen!“
Dann stellte er ein Radio auf und spielte laute Rockmusik.

Was wirklich begann, war natürlich keine Party, sondern die spektakulärste Geiselnahme in der Geschichte Schwedens.
Sechs Tage würde sie sich hinziehen und später weltweit für einen neuen Begriff in der Psychologie sorgen...

Die Kunden der Bank konnten fliehen, aber vier Angestellte (drei Frauen, ein Mann) blieben zurück. Und es gab einen Toten, einen Polizisten. :(
Der Täter und Geiselnehmer: Janne Olsson, ein Kleinkrimineller. Sein großes Vorbild: Clark Olofsson, ein Gangster mit romantischem Touch.
Olsson wollte, dass Olofsson aus dem Gefängnis zu ihm in die Bank gebracht wird. Außerdem einen Mustang vor der Tür, zwei geladene Pistolen und drei Millionen Kronen (etwa 250.000 Euro). :oops:
Dies teilte er Olof Palme, Schwedens Ministerpräsidenten, am Telefon mit.

Noch am selben Tag brachte die Polizei Olofsson in die Bank.
Er und Olsson taten sich zusammen, drohten in den folgenden Tagen immer wieder damit, Geiseln zu erschießen.
Sie telefonierten und tobten – aber nichts passierte.
Clark Olofsson, der schon vorher wegen seiner Interviews und seines guten Aussehens in Schweden bekannt gewesen war, tröstete die Frauen, die inzwischen im Tresorraum festgekettet waren.
Er sprach mit ihnen, hörte ihnen zu, weinte mit ihnen.
Die Situation wurde von Tag zu Tag unerträglicher, vor allem, als die Polizei den Tresorraum von außen zumachte und Geiseln und Geiselnehmer gemeinsam einschloss.

Die Rettung erfolgte erst nach sechs Tagen, am 28. August 1973.
Die Polizei hatte Löcher durch die Tresor-Decke gebohrt und Tränengas in den engen Raum gesprüht.

Die Geiseln Kristin Enmark, Elisabeth Oldgren, Birgitta Lundblad und Sven Säfström kamen für fünf Tage in eine psychiatrische Klinik, beantworteten Fragen der Psychologen.
Die stellten zu ihrem Erstaunen fest, dass alle vier Geiseln der Polizei die Schuld an ihrer schrecklichen Lage gaben – nicht den beiden Verbrechern.
Sie betonten immer wieder, dass sie während der gesamten Zeit mehr Angst vor der Polizei als vor den Tätern gehabt hatten.

Untersuchungsleiter Dr. Lennart Ljunggren sagte zum Vorgehen der beiden Gangster:
"Es ist die gleiche Gehirnwäsche, die man auch bei Kriegsgefangenen beobachten kann.“
Die Geiseln seien in einem "Schockzustand, in dem sie sich vor der Wirklichkeit schützen und so tun, als seien überhaupt keine schlimmen Dinge passiert.“

Der Psychiater Nils Bejerot hatte die Polizei während des Geiseldramas in Stockholm beraten, sollte die Psyche der Täter einschätzen.
Er war überzeugt: Olsson und Olofsson hätten nichts davon, wenn sie eine Geisel töten würden. Damit bestärkte er die Polizei in ihrer Zermürbungstaktik.
Nach der Befreiung schrieb er eine Analyse über das Verhalten der Geiseln und bezeichnete ihr Verhalten als "Stockholm-Syndrom".
Der Begriff war geboren.

Alle vier Geiseln mieden nach dem Drama weitgehend die Öffentlichkeit. Nur Kristin Enmark äußerte sich hin und wieder.
Besonders ihr hatte man das "Stockholm-Syndrom" nachgesagt, weil sie nach der Befreiung Clark Olofsson vom Krankenwagen aus zuwinkte.
Angeblich soll sie sogar in ihn verliebt gewesen sein. Sie wies das immer wieder vehement zurück.

Bekannte Fälle
  • Ein Beispiel für das Stockholm Syndrom ist der Fall Jaycee Dugard aus Kalifornien.
    Sie wurde mit elf Jahren auf dem Weg zur Schule entführt und anschließend fast zwei Jahrzehnte gefangen gehalten.
    Abgeschottet von der Außenwelt wurde sie von ihrem Entführer mehrfach vergewaltigt und brachte in der Zeit ihrer Gefangenschaft zwei Töchter auf die Welt.
    Unter anderem, da sie mehrere sich bietende Gelegenheiten zur Flucht nicht ausnutzte, waren Psychologen der Georgia State University der Auffassung, dass sie Anzeichen des Stockholm Syndroms aufweist.

    Sie selbst wehrt sich gegen diese Aussage. Ihrer Ansicht nach impliziert das Stockholm Syndrom eine willentlich entstehende Zuneigung gegenüber dem Peiniger.
    Diese habe sie jedoch nicht empfunden. Für sie stellt ihr Verhalten lediglich eine Anpassung an die Situation dar, um Ihre Überlebenschancen zu vergrößern.

  • Ein weiterer bekannter Fall ist der von Natascha Kampusch. Ihre Geschichte ging um die Welt.
    Die damals zehnjährige Österreicherin wurde 1998 auf ihrem Schulweg entführt.
    Anschließend war sie über acht Jahre in Wien in Gefangenschaft, die meiste Zeit davon eingesperrt in einem einzigen Raum.
    In diesen acht Jahren wurde sie mehrfach schwer körperlich misshandelt.
    Im Laufe der Zeit brachte ihr Entführer Wolfgang Přiklopil ihr Zeitungen oder Bücher mit, unterrichtete sie im Lesen und Schreiben und erlaubte ihr, hin und wieder Radio zu hören und Videos zu gucken.

    Auch sie weist Experten zufolge Anzeichen des Stockholm Syndroms auf.
    In der Gefangenschaft hat sie sich mit ihrem Entführer arrangiert, um am Leben zu bleiben.

    In einem Interview sagte sie dazu:
    "Ich bin dieser Theorie gegenüber kritisch eingestellt. Ich glaube vielmehr, dass es doch ganz logisch ist, sich auf seine Umgebung – und sei sie noch so schlimm – einzustellen.
    Wer sich in Menschen hineinversetzen kann, lernt, die eigene Situation besser einzuschätzen.
    Es geht dabei um das eigene Verständnis, nicht darum, dass ich Verständnis für den Täter habe.“


  • Auch die Geschichte der Millionen-Erbin Patty Hearst ist vielen bekannt.
    Im Jahre 1974 wurde die damals 19-jährige Enkelin des mächtigen US-amerikanischen Verlegers William Randolph Hearst von der linksradikalen Symbionese Liberation Army (SLA) entführt.
    Rund zwei Monate nach ihrer Entführung warf sie in einer Audiodatei ihren Eltern vor, nicht genug für ihre Befreiung zu tun und erklärte, sie habe sich der SLA angeschlossen.
    Ab diesem Moment beteiligte sie sich an mehreren Überfällen, der schwerwiegendste war ein bewaffneter Banküberfall.
    Aufgrund ihrer Mithilfe in diesem Fall wurde sie im Jahr 1975 verhaftet und zu einer Haftstrafe verurteilt.

    Das "Stockholm-Syndrom" spielte beim ersten Prozess noch keine Rolle. Patty Hearsts Strafe wurde jedoch später auf sieben Jahre verkürzt.
    Freigekommen ist sie schlussendlich nach nur 22 Monaten.
    Nach Meinung vieler Experten ist Patty Hearst vom Stockholm Syndrom betroffen. Auch ihr Anwalt argumentierte im Gerichtsprozess nach dem Banküberfall damit.
    Dadurch, dass sie über lange Zeit in einer derart bedrohlich Situation gefangen war, habe sie, um zu überleben, angefangen ihre Gedanken und Emotionen abzuspalten und nur noch auf die Anweisungen ihrer Entführer hin zu handeln.
Quellen: Bild, Pro7, FAZ, Spiegel, Wikipedia
 
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