Zum 100. Geburtstag: Eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk Maria Callas

SteveJ

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Wie wohl ihr Account in den Sozialen Netzwerken heißen würde? @Maria? @LaDivina?
Und was gäbe es zu sehen? Neueste Roben? Schnappschüsse von Proben oder mit Onassis auf einer Jacht inklusive kurzer Videos?

Spätestens jetzt dürfte nicht nur der Fan abwinken: Letztlich ist all dies unvorstellbar, aus Sicht der Callas auch unwürdig, stillos. (n)

Das Gedankenexperiment zielt aber auf anderes:
Es geht um den Kontrast, um die Vergegenwärtigung einer Karriere, die wie keine zweite und unwiederholbar war.

Maria Callas, am 02.12.1923 als Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulou in New York City geboren und am 16.09.1977 in Paris gestorben, war ein Kind ihrer Zeit – und ist zugleich eine Vertraute, weil sie zum Synonym für “Sopranistin“ oder “Opernstar“ wurde – so wie alle Welt beim Begriff “Dirigent“ sofort an Herbert von Karajan denkt.
Eine Vertraute, die zugleich wie ein fremdes, faszinierendes Wesen bestaunt wird.
Ein Mythos schon zu Lebzeiten und den Niederungen der sonstigen Musikszene enthoben. Und damit im Mehrfachsinn unfassbar und -greifbar.

Wer absolute Objektivität will, muss sich mit Zahlen begnügen:
"Nur" 605 Aufführungen hat sie gesungen.
Bis heute bewegen sich die Vielgefragten der Szene bei 60 bis 80 Abenden pro Jahr.
92 Mal stand die Callas in der Titelpartie von Bellinis “Norma“ auf der Bühne, die rettungslos in einen Römer verliebte Druidenpriesterin wurde zur sog. "Signetrolle".


Und zwei weitere vielsagende Zahlen:
Von 92 auf 64 Kilo hungerte sie sich während der Spielzeit 1953/54 herunter, um ins Frauenwunschbild (nicht nur) der damaligen Zeit zu passen. :oops:

Ob die Gewaltdiät ihren vokalen Abstieg beförderte, darüber gibt es seitdem heftige Diskussionen. Auch darüber, wie lang ihre Glanzzeit eigentlich währte.
Hier sind sich zumindest Stimmexperten einig: nicht einmal eineinhalb Jahrzehnte.
An der Singularität, an der Berührungskraft dieser Sopranstimme zweifelt ja keiner. Die Callas zwingt zum Hinhören. Und wer ihr lauscht, wird zu einer Haltung gezwungen.
Doch war die Stimme schön? :unsure:

Die Kunst der Callas zeugt von einem umfassenderen Schönheitsbegriff.
Von einem ästhetischen Selbstverständnis, das den Bereich von Liebreiz, Harmonie und Geschliffenheit verlässt.
Von einer Suche nach künstlerischer Wahrheit, die mit anderen Definitionen von Vollkommenheit operiert.
Das Stuckwerk des Belcanto in den Opern Donizettis und Bellinis, das ist heute eine Binse, bekam durch sie ein neues, eigenes Gewicht.
Kein Zwitschersopran war hier aktiv, keine, die diese Werke nur als Virtuosenfutter nutzte.
Jedes Teil einer Koloraturkette erhielt nun eine angemessene Bedeutung. Jede Tonbildung war Mittel zum Zweck.
Nichts war – im Vergleich zu Elisabeth Schwarzkopf oder Dietrich Fischer-Dieskau – gemacht, hergestellt, aus der Distanz entwickelt.
Nichts war nur Klang aus der Schmuckschatulle wie bei Montserrat Caballé oder Renée Fleming und daher von begrenzter dramatischer Aussagekraft.
Von daher konnte die Stimme der Callas kein polierter Edelstein sein. Alles war totale dramatisch-theatrale Logik.

Es ging ihr stets um die penible Befragung des Details und der Motivation des Komponisten. Und das alles frei von vordergründigen Effekten.
Ausnahme waren Töne, die sie als Kampfmittel einsetzte: Das berühmte, nicht in der Partitur stehende hohe Es, das sie 1951 in Mexico-City am Ende des “Aida“-Triumphaktes abfeuerte, war eine Anti-Tenor-Waffe.


Mit diesem alles versengenden Ton erteilte sie Kurt Baum eine Lektion, der sich bis dahin durch die Radamès-Partie gegockelt hatte.
Dramatik, so dachte die Callas nämlich, lässt sich nur gemeinsam realisieren. Auch das ist Werktreue.

Ihr Gesang erschöpfte sich nicht im Ebenmaß. Er war aber auch mehr als ein Rohdiamant. Kein Vulkanausbruch, wie oft gemeint wird.
Die Callas sang nicht wie ungeformte Lava, alles zeugte vom vollkommenen Bewusstsein der dramatischen Mittel.
Ob es auch eine vollkommene Beherrschung war, das steht auf einem anderen Blatt.
Brüche, fehlende Klangkonzentration, ein aus den Fugen geratenes Vibrato, all dies zeichnete sich schon früh ab.
Und immer bleibt die Frage, ob sie zu Beginn der Karriere, als sie sich auf Dramatisches wie Kundry, Turandot oder Aida warf, Raubbau betrieb.
Schon am 2. April 1939, als 16-Jährige, stand die Callas im Rahmen eines Studierenden-Projekts als Santuzza in Mascagnis “Cavalleria rusticana“ auf der Bühne. Ein Parforceritt.

Für die eklatanten Veränderungen ihres Soprans gibt es den “Tosca“-Beweis.
In der 1953 erschienenen Mono-Aufnahme unter Victor de Sabata gehorcht diese Stimme vollumfänglich und atemberaubend.


1965 dann, in der Zweiteinspielung unter Georges Prêtre, hört man keine vokalen Maserungen mehr, sondern Substanzverluste. :(


Und doch tobt ein Glaubenskrieg, welche die bessere Aufnahme ist.
Gerade der Niedergang der Callas, so wird gern vorgebracht, das Ungeschützte, Verletzte, berühre doch viel mehr.
Wie viel Verschleißerscheinungen werden also einem Idol gestattet?
Was ist noch tolerierbar im Dienste eines Vokalporträts – das letztlich Zeugnis einer verlöschenden Stimme ist?

Am Ende war ihr Ruin nicht mehr zu kaschieren. 😟
Sie selbst sprach immer wieder von Neuanfang, von frischen Kräften. Ob es Selbstsuggestion war oder PR-Gerede, man mag und kann es nicht entscheiden.
Die Bühnenkunst der Callas ist ja ein viel umfassenderes Phänomen.
Und sie war das Gegenteil eines überall gastierenden Stars, der mit minimaler Vorbereitung seine oft erprobte, stereotype Einheitsdramatik ablieferte – man denke hier nur an Rollenverschlinger wie Plácido Domingo.
Auch gibt es genügend Berichte, wie sich die Callas über unvorbereitete Kollegen beschwerte.
Eine “Lohengrin“-Elsa wie einst Anna Netrebko an der Dresdner Semperoper, die ihr Debüt nur mit fürs Publikum unsichtbaren Untertiteln absolvieren konnte – für die Callas undenkbar.

Dass sie bekämpft wurde, dass ihr Überspanntheit und Capricen vorgeworfen wurden, das war auch ein Indikator.
Der Musikbetrieb strebte immer mehr nach dem schnell und gewinnbringend Herstellbaren, teils auch nach konfektionierten Stimmen.
In ihren besten Zeiten konnte die Callas ins “System“ eingepasst und eine Produktion um sie herumgebaut werden.
Weil man begriff, was mit ihrem Kunstverständnis und ihrem singdarstellerischen Potenzial möglich war.

Maria Callas bleibt auch singulär, weil es keine Nachfolgerinnen gab.
Nur Nachahmerinnen, die mit Colliergriff oder künstlich abgedunkelter Stimme versuchten, dem Idol auf die Schliche zu kommen – man nehme Lucia Aliberti oder Angela Gheorghiu.
Erst mit dem stimmlichen Niedergang, auch mit dem Eintritt ins Jetset-Leben und ihrer Beziehung zum griechischen Reeder Aristoteles Onassis geriet die Kunst der Callas aus der Balance.
Der scheiternde Mensch schob sich nun vor die Opernfiguren. Etwas, das von der lüsternen Öffentlichkeit verfolgt und befördert wurde.
Für eine Neuerfindung aus eigener Kraft war es da zu spät.

Noch immer ist sie der Prototyp der Diva. Allerdings nicht als Synonym für Super-Promi.
Diva, das heißt laut Definition der Kultur- und Sozialwissenschaft: vergöttert, verehrt, über die Zeit hinaus wirkend.
Und: ein versehrter Star, verletzt im oder durch den Ruhm. Leidend an Wunden durch private oder berufliche Krisen.
Wie Romy Schneider, Evita Péron – oder auch König Ludwig II.

Was zeigt, was Stars wie Helene Fischer oder Britney Spears von echten Diven unterscheidet.
Die stehen außerdem im Gegensatz zur Schnelllebigkeit unserer Kultur, zur Sucht nach neuen Namen, Maschen und Moden.

Die Callas blieb beides. Kunstfigur und Künstlerin, Phänomen und reales irdisches Wesen.
Eine Weltenthobene und Eigenkreation, die der Realität, ob vokal oder privat, nicht mehr standhielt. Eine Tragödin im Doppelsinn.
Eine Aus-der-Zeit-Gefallene, die ihre Wirkungszeit benötigte. Insofern erübrigt sich die Frage nach dem Social-Media-Account.
Das Gesamtkunstwerk Callas hätte heute wohl keine Chance mehr...

Quellen: Ippen-Digital, Wikipedia, BR-Klassik
 
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